Donnerstag, 1. September 2022

Das Narrenschiff - Deutschland 2022

 Das Narrenschiff
 Reinhard Mey, Album "Flaschenpost", 1998    

    Das Quecksilber fällt, die Zeichen stehen auf Sturm
    Nur blödes Kichern und Keifen vom Kommandoturm
    Und ein dumpfes Mahlen grollt aus der Maschine
    Und Rollen und Stampfen und schwere See
    Die Bordkapelle spielt: Humbatätärä
    Und ein irres Lachen dringt aus der Latrine

    Die Ladung ist faul, die Papiere fingiert
    Die Lenzpumpen leck und die Schotten blockiert
    Die Luken weit offen und alle Alarmglocken läuten
    Die Seen schlagen mannshoch in den Laderaum
    Und Elmsfeuer züngeln vom Ladebaum
    Doch keiner an Bord vermag die Zeichen zu deuten

    Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
    Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
    Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
    Der Funker zu feig, um SOS zu funken
    Klabautermann führt das Narrenschiff
    Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff

    Am Horizont Wetterleuchten: die Zeichen der Zeit
    Niedertracht und Raffsucht und Eitelkeit
    Auf der Brücke tummeln sich Tölpel und Einfaltspinsel
    Im Trüben fischt der scharfgezahnte Hai
    Bringt seinen Fang ins Trockne, an der Steuer vorbei
    Auf die Sandbank bei der wohlbekannten Schatzinsel

    Die andern Zuhälter und Geldwäscher, die warten schon
    Bordellkönig, Spielautomatenbaron
    Im hellen Licht, niemand muss sich im Dunklen rumdrücken
    In der Bananenrepublik, wo selbst der Präsident
    Die Scham verloren hat und keine Skrupel kennt
    Sich mit dem Steuerdieb im Gefolge zu schmücken

    Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
    Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
    Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
    Der Funker zu feig, um SOS zu funken
    Klabautermann führt das Narrenschiff
    Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff

    Man hat sich glattgemacht, man hat sich arrangiert
    All die hohen Ideale sind havariert
    Und der grosse Rebell, der nicht müd wurde zu streiten
    Mutiert zu einem servilen, gift’gen Gnom
    Und singt lammfromm vor dem schlimmen alten Mann in Rom
    Seine Lieder, fürwahr! Es ändern sich die Zeiten

    Einst junge Wilde sind gefügig, fromm und zahm
    Gekauft, narkotisiert und flügellahm
    Tauschen Samtpfötchen für die einst so scharfen Klauen
    Und eitle Greise präsentieren sich keck
    Mit immer viel zu jungen Frauen auf dem Oberdeck
    Die ihre schlaffen Glieder wärmen und ihnen das Essen vorkauen

    Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
    Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
    Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
    Der Funker zu feig, um SOS zu funken
    Klabautermann führt das Narrenschiff
    Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff

    Sie rüsten gegen den Feind, doch der Feind ist längst hier
    Er hat die Hand an deiner Gurgel, er steht hinter dir
    Im Schutz der Paragraphen mischt er die gezinkten Karten
    Und jeder kann es sehen, aber alle sehen weg
    Und der Dunkelmann kommt aus seinem Versteck
    Und dealt unter aller Augen vor dem Kindergarten

    Der Ausguck ruft vom höchsten Mast: “Endzeit in Sicht”
    Doch sie sind wie versteinert und sie hören ihn nicht
    Sie ziehen wie Lemminge in willenlosen Horden
    Es ist, als hätten alle den Verstand verloren
    Sich zum Niedergang und zum Verfall verschworen
    Und ein Irrlicht ist ihr Leuchtfeuer geworden

    Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
    Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
    Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
    Der Funker zu feig, um SOS zu funken
    Klabautermann führt das Narrenschiff
    Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff

    Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
    Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
    Die Mannschaft, lauter meineidige Halunken
    Der Funker zu feig, um SOS zu funken
    Klabautermann führt das Narrenschiff
    Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff

https://www.dr-puschmann.de/de/literatur/gedanken/reinhard_mey/txt00018.html